Gekonntes Spiel von der Fragwürdigkeit der Opferrolle
Theater-AG der Humboldt-Schule Lauterbach überzeugte mit „Iphigenie – Entscheidung in Aulis“
Es ist die Zeit im Vorfeld des Trojanischen Krieges. Helena wurde von Paris nach Troja entführt. Ihr Gatte Menelaos, in seiner männlichen Ehre gekränkt, dringt bei seinem Bruder, König Agamemnon, auf einen Feldzug gegen die Trojaner. Das Heer ist gerüstet, kann aber wegen andauernder Flaute nicht auslaufen. Um die Götter dazu zu bewegen, endlich Wind zu schicken, muss Agamemnons Tochter Iphigenie auf dem Altar geopfert werden. Agamemnon läßt sie also nach Aulis kommen unter dem Vorwand, sie verheiraten zu wollen, sie reist mit ihrer Mutter Klytaimnestra an. Doch die wahren Pläne des Königs bleiben beiden nicht lange verborgen.
Diese Geschichte nach dem antiken Drama „Iphigenie in Aulis“ von Euripides (um 450 v. Chr.) wurde von der Theater-AG der Alexander-von-Humboldt-Schule unter Leitung von Sigrid Gebel in zwei gut besuchten Veranstaltungen dem Publikum dargeboten.
Auf einer mitten im Raum installierten Bühne (die mit der Unterstützung der Stadt Lauterbach errichtet worden war), bei der die Zuschauer von zwei Seiten Einblick nahmen, agierten acht Schauspieler ohne jedes Bühnenbild und mit sparsamsten Requisiten. Zwar gab es eine ausgefeilte Lichtregie (von Kim Hartmann und Jeremias Rockel), aber dennoch war es eine besondere Leistung, gleichsam auf den nackten Bühnenbrettern eine Atmosphäre zu schaffen und fast ohne Anhaltspunkte ein durchgängig exzellentes Stellungsspiel zu zeigen.
Die Handlung des Dramas führt durch zahlreiche Konflikte. Roman Taday vermittelte auf beklemmende Weise den inneren Kampf Agamemnons zwischen der Liebe zu seiner Tochter und der gefühlten Notwendigkeit des Menschenopfers. Sehr stark auch Caroline Scholtes in der Rolle der Klytaimnestra, die in Verzweiflung und dem Gefühl der Machtlosigkeit zwischen ihren Rollen als Mutter, als Ehefrau und als Königin der Griechen zerrissen ist. Richard Sawadski gab eindrucksvoll den Menelaos, zunächst als gekränkten Macho, der sich schließlich zum Teil von der Unschuld Iphigenies läutern läßt. Felix Vierheller verkörperte glaubhaft den jungen Helden Achilles mit dessen guten Vorsätzen und seiner jugendlichen Selbstüberschätzung. Als Sklave Agamemnons brillierte Annemarie Greb, die den Diener als alten Mann darstellte, der zwar an die Menschlichkeit gemahnt, sich seiner Rolle aber stets bewußt bleibt und auch die anderen Protagonisten stets daran erinnert, dass sie im doppelten Sinne eine Rolle spielen, indem er betont, was nun eben der Rolle gemäß gesagt werden muss. Mehrmals lesen die Schauspieler dann ihren Text in kleinen Passagen aus dem Reclam-Band mit Euripides ab, was ein sehr gelungener Regie-Einfall war.
Szenenbild einer aussergewöhnlichen Leistung: Carolin Dietrich und Verena Ritz
als die gedoppelte Persönlichkeit der Iphigenie.
Im doppelten Sinn zweigeteilt war die Rolle der Iphigenie. Zum einen, weil zwei Schauspielrinnen, Carolin Dietrich und Eileen Sauer, in je einer Aufführung diesen Part spielten, während die andere soufflierte. Dem Vernehmen nach standen sich die beiden dabei in nichts nach. In unserer Aufführung war es Carolin Dietrich, welche diese schwierige Rolle mehr als ausfüllte. Zum anderen aber war die Rolle in sich nochmals geteilt, denn die Figur „Das Kind“ (gespielt von Verena Ritz) war in die Handlung eingefügt worden, gleichsam als gedoppelte Persönlichkeit der Iphigenie, die so an der Schwelle ihres Erwachsenwerdens einen inneren Monolog zwischen dem kleinen Mädchen und der jungen Frau als Dialog führen konnte. Was Dietrich und Ritz damit gelang, war schon etwas Besonderes: die Spannung zwischen kindlicher Naivität und kindlicher Weisheit, das Aufeinanderprallen von Sehnsüchten, Phantasien, den Welten des Spiels und der Einsicht schlug das Publikum in Bann. Letztlich blieb es als einzige die Stimme des Kindes, welche die heldenhafte Fügung Iphigenies in ihre Opferrolle über das Ende hinaus in Frage stellte.
Der gesamten Theater-AG und speziell auch der Leiterin Sigrid Gebel war es damit in nur cirka sechs Monaten Probenarbeit gelungen, das Niveau für Schultheater in Lauterbach neu zu definieren. Das Publikum durfte ein engagiert und überaus gekonnt aufgeführtes Theaterstück mit erheblichem Tiefgang in einer ausgezeichneten Inszenierung erleben, wofür es anhaltenden Applaus spendete.
Die Schauspieler der Theater-AG genießen ihren verdienten Applaus.