Eigentlich Gedichte

von Martin Krauss

In bibliophiler Ausstattung erschien als zweite Ausgabe der Reihe "Passagen" im Verlag de scriptum, Uhldingen ein schmales Bändchen mit dem bescheidenen Titel "FUNDUS — Notitzbuchseiten" des Horber Autoren Walle Sayer.

Sayer, 1960 in Bierlingen geboren, veröffentlichte zunächst Gedichte und Prosa in Kleinstverlagen und beteiligt sich intensiv am literarischen Leben, das auf den Seiten von Literaturzeitschriften stattfindet. 1994 erschien beim Eppe Verlag in Bergatreute der Gedichtband "Zeitverwehung", der ihm den wichtigen "Thaddäus-Troll-Preis" einbrachte. Es folgten zahlreiche Stipendien und Wettbewerbserfolge und 1995 der Prosaband "Kohlrabenweißes" bei Klöpfer&Meyer, Tübingen. 1997 wurde er mit dem Förderpreis des Friedrich-Hölderin-Preises der Stadt Bad Homburg ausgezeichnet.

Die Tendenz der stark verknappten, präzisen Beschreibung, in "Kohlrabenweißes" bereits eingeführt, findet in "Fundus" nun ihre Vollendung. Auf den 32 "Notizbuchseiten" reihen sich kurze und kürzeste Texte, die bei aller Verknappung so inhaltsreich, assoziativ und stimmungsgeladen sind, daß eine Einteilung nach formalen oder thematischen Aspekten obsolet ist.

Walle Sayer formuliert Sätze, manchmal gar nur Worte, dann wieder kleine Episoden oder mehrere Sätze umfassende Schilderungen, die im Wortsinn "Bezeichnungen" darstellen. In der dem Autor eigenen, illusionslosen, stets etwas melancholisch angehauchten, aber nie sarkastischen Art bezeichnen sie die Resultate sensibler Weltbetrachtung, die keine Endstationen, sondern Ausgangspunkte für Nachdenken und Mitempfinden sind.

Es gelingt Sayer, in sorgfältigst ausgewähltem Vokabular, oder, wo dies zu keinen treffenden Ergebnissen führt, durch Wortneukombinationen (z.B. "Zeiterwerb", "Seelenpferch") kleine Welten entstehen und den Leser in deren Leben eintauchen zu lassen. Er manifestiert Archetypen der Wahrnehmung, verbal pointiert, eigentlich Gedichte. Dennoch: Sayer steht zur Prosaform, da das prosaische notwendiges Ausdrucksmittel scheint, und zwingt keine künstlichen Zeilenumbrüche in die Texte.

Die suggestive Kraft der Prosaminiaturen vermindert sich dann, wenn sie die Tendenz zum Richten annehmen ("Für Straßenplaner braucht die Landschaft nur den Blick durchs Autofenster illustrieren."), dann drohen sie gefährlich die Tendenz von Sprüchen anzunehmen. Doch das betrifft die wenigsten Beispiele.

Die Kraft der Miniaturen erwächst aus einer gleichermaßen schonungslos genauen wie sensiblen Betrachtung und aus phantasievoller, unaffektierter Umsetzung. ("Sie hat sich heiser geschwiegen, er hat nichts gehört.") Sie bewegen sich thematisch in der Welt der "einfachen Leute", in deren Alltag, im Verhältnis zu Arbeit, Geld, Religion, Geschichte, Natur, Gefühlen. Wenige Worte stoßen die Gedanken an, leiten sie mit sanftem Zwang in eine Gegend, in der Erinnerungen und Entdeckungen möglich sind ("Ausgeastete Stammbäume."), oder sie Gründen eine Hoffnung, die jeder für sich beleben kann ("Einfach stehenbleiben und warten, bis jemand auf einen Glückspfennig herausgeben kann.").

Zweiunddreißig Seiten, von einem Faden gehalten, in denen man sich lange aufhalten kann. Ein schmaler Band — ein großes Buch.

 

Walle Sayer: Fundus — Notizbuchseiten. de scriptum Verlag, Uhldingen 1997, ISBN 3-931071-13-8, 32 Seiten, 20,- DM.