Offener Blick im Gedichtband "Belebte Plätze"
von Martin Krauss
In der bibliophilen "Passagen"-Reihe des Verlags "de scriptum", Uhldingen von Josef Hoben präsentiert der 1967 in Karlsruhe geborene Matthias Kehle 24 Gedichte unter dem Titel "Belebte Plätze".
Der Klappentext stellt mit Kehle einen Schriftsteller, Journalisten und Kritiker vor, der Germanistik und Soziologie studiert hat und zuvor Erzählungen und einen Gedichtband publizierte.
Die Lyrik in "Belebte Plätze" erscheint schlicht, unspektakulär, ohne sprachliche Extravaganzen; doch sie entfaltet von Beginn an eindrucksvollen, oft mehrfachen Hintersinn und ungewöhnliche Perspektiven.
Kehle bestimmt und verdichtet Alltagsmomente, Stimmungen. Griff nach dem Flüchtigen, Projektion verstohlener Gedanken: unprätentiöse Poesie, die weder aufgesetzt empfindsam noch kühl distanziert daher kommt, und die daher unmittelbar und aufrichtig wirkt.
Kehles Gedichte werden geprägt durch intensive Verschränkung von Emotion und Beobachtung, welche dadurch metaphorischen Gehalt empfängt. Zum Beispiel in dem titelgebenden Gedicht, wenn die Lust ihre "Habseligkeiten [...] auf belebten Plätzen (verstreut)". In tiefsinnigen, sich dabei keineswegs als "Weisheiten" gebärdenden, atmosphärisch geladenen Miniaturen erweckt Matthias Kehle die Magie der Momente, bewegt sich, ohne abzuschweifen, von der Wahrnehmung zur Projektion von Träumen und Gedanken, als sei dies der natürlichste aller Wege. Die kompromißlos persönliche Perspektive extrahiert mühelos das Substanzielle aus allgemeiner Beobachtung, die stets auch mit Erwartung konfrontiert ist: "noch im Oktober / wartest du / auf die Hitze / die im Gedächtnis flirrt..."
Dann gelingen ihm einfühlsame Versenkungen ins Gegenüber seiner Verse, dem "Du" ebenso wie z.B. der alten Frau im "Herbst": "Das Wetter spielt mit / den Greisen. / Eine Frau trägt / ein Plastikhäubchen, / ändert ihre Vorstellung / von Wärme." — oder auch in Kindheitsdämmerungen, zu denen er wohltuende, persönliche Distanz wahrt. ("Sein Großvater habe ihm [...] gezeigt..." — "Sie erinnert sich..."). Selbstdarstellung ist offenkundig nicht Matthias Kehles treibendes Motiv. Der offene, teilnehmende Blick zum Anderen verrät Reife.
Indirekt erschließt Kehle seine Poetik selbst, und zwar im letzten Gedicht, gleichsam komprimierend: aus der interessierten Beobachtung des Gegenübers und der freien Assoziation werden Fragen und Gedanken aufgeworfen, die thematisch nicht festgelegt, nicht methodisch, nicht gezielt, sondern ergebnisoffen sind (wohl deswegen sind die meisten Gedichte ohne Titel). "Im Vorbeigehen kratzt sie / Moos von der Mauer. / Welche Sage erzählt / vom Totenschiff / aus abgeschnittenen Fingernägeln? / fragt sie und bemerkt / den Wind, der in ihre / Frage geraten ist." Auch Kehle läßt den Wind in seine Texte wehen, anstatt mit verbissenem Schreibwillen bei geschlossenen Läden zu werkeln. Erstaunlich, daß sie dabei sprachlich so präzise, so stringent und formbewußt sind.
Matthias Kehles Gedichte sind gerade wegen ihrer Offenheit anregend, anspruchsvoll und von hohem, ästhetischen Reiz. Das Heft von 30 Seiten "Belebte Plätze" provoziert viele Gedanken — und es ermöglicht eine gewinnende persönliche Begegnung.
Matthias Kehle: "Belebte Plätze" (Gedichte). Reihe "Passagen" Nr. 9 im de scriptum Verlag, Uhldingen 1999, ISBN 3-931071-21-9, 30 Seiten, 20,- DM.