Das Meer läuft aus dem Ruder
von Martin Krauss
Der Luxemburger Jean Krier, Jahrgang 1949, legt mit "Tableaux – Sehstücke" seinen zweiten Gedichtband vor. Ein schon äußerlich auffallendes Buch. Vom Gollenstein-Verlag aufwendig und liebevoll produziert zeigt es auf dem Einband und auf den ersten Seiten drei farbige Bilder von Max Neumann, denen Texte oder Textzitate Jean Kriers zugeordnet sind.
Kriers Verse liefern zu den eindringlichen Bildern tiefe, treffende Gedankensplitter. Die Kunst, Bilder durch Texte zu bereichern, so dass die Worte untrennbar eindringen, ohne Beschreibung oder Interpretation zu sein, entfaltet sich hier zu besonders starken Momenten.
Der Inhalt gliedert sich in zwei große Kapitel: "Marines" (dann also wohl "Seestücke", und tatsächlich ist darin immer wieder vom Meer die Rede), in welchem die Gedichte nur Nummern als Titel tragen, sowie "Memento", in welchem die Texte Namen haben und deren literarischer Schauplatz wechselt (Städte, (meist französische) Landschaften - oder auch ohne klaren Ortsbezug). Formal und im Tonfall setzen sich diese beiden Kapitel kaum voneinander ab.
Es ist, so viel sei eingestanden, nicht leicht, einen Zugang zu Kriers Poetik und seiner Gedankenwelt zu finden. (Nicht nur wegen eines Verlags-Versäumnisses: Zumindest für den deutschen Markt wäre ein Anhang mit Übersetzungen der zahlreichen französischen Passagen sinnvoll gewesen.) Kriers Gedichte sind sperrig und wirken oft abweisend. Wir lesen von Landschaft und Meer, meist in grammatikalisch vollständigen Sätzen, Beobachtungen von Menschen, Tieren, Konstellationen. Der Stil wirkt aggressiv, komprimiert, frei assoziativ und dabei sehr persönlich. Krier zeichnet damit eine rissige Realität, in der nichts heil zu sein scheint, und versieht sie mit einer adäquaten Sprache. Sicher nicht auf Anhieb, aber dann doch recht bald kann sich dem Leser das zugrunde liegende Prinzip, die Weltsicht und Poetologie Kriers erschließen – und dann sollte man von vorne zu lesen beginnen.
Es scheint, als bliebe der aufmerksame Beobachter Krier von der Ästhetik, der Stimmung und dem Harmonischen der (See-)Landschaft nicht unbeeindruckt, aber fürchte sich beinahe davor – zumindest aber erweist sich für ihn die stille reine Landschaft als unbrauchbar für ernste Lyrik. Spürbar wird ein fester, innerer Widerstand gegen sich aufdrängende, vielleicht aber die Sinne und Gefühle vernebelnde Schönheit der Natur. Die Waffen dieses Widerstands sind Melancholie und bissige Rationalität. Das ergibt stimmungsvolle Portraits zwischen Träumerei und Sarkasmus. ("...was für ein Vorwurf, das Meer. Es läuft / aus dem Ruder und stets auf dasselbe / hinaus. An allen Ketten, / kreuzige es..."). Krier bleibt immer misstrauisch, stellt dem sinnlichen Eindruck seine analytische Seh-Landschaft ("Sehstücke") entgegen - und als Dichter kämpft er gegen alles Beschauliche seines Metiers – aber auch z.B. gegen den Kulturdruck der Vergangenheit ("und obschon wir alle meinen, wir gehören hierher, / wird's Zeit: Tischbein laß los, enjoy your flight – off.").
Ausgehend von einer Geisteshaltung, die man fast existentialistisch nennen könnte, schafft Krier bewusste Distanz zu seinen Motiven, indem er sie in andere, meist beklemmende Zusammenhänge rückt: Vergänglichkeit, Vergeblichkeit, Religion, Irrtum und Tod. Suspekt scheint ihm alles zu sein, und so findet sich nichts Triviales, kaum etwas Versöhnliches in seinen Versen. – Doch bleiben nicht Hass, Spott, Ablehnung oder Verachtung als Grundtendenzen bestimmend, sondern Sensibilität und Nachdenklichkeit.
Jean Krier: "Tableaux – Sehstücke" (Gedichte), Gollenstein Verlag, Blieskastel 2002, ISBN 3-935731-13-2, 95 S., 16,- €