Nicht mehr als ein spannender Abenteuerroman
Über Robert Mawson: »Das Lazaruskind« (Roman)
von Martin Krauss
Robert Mawson hat nicht übel recherchiert, auch seines Themas Kundige merken deutlich, dass er ziemlich präzise um die medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Gegebenheiten bei schweren Schädel-Hirm-Traumata und bei Koma-Patienten weiß, und auch, dass ihm die soziale Problematik solcher Patienten nicht fremd ist. In seinem vielleicht ein wenig aufdringlich kenntlich durchdramatisierten Werk konstruiert er allerdings einen Fall, in welchem er exemplarisch alle Katastrophen, Schicksalsschläge, psychischen Dilemmas und Probleme auf eine Familie zu projizieren und damit zusammenfassen zu wollen scheint. Durchaus verdienstvoll dabei, dass er klar herausarbeitet, dass neben den physischen Verletzungen und deren Folgen auch Schock und psychische Blockaden einen Koma-Patienten am »Zurückkommen« zu hindern vermögen.
Die Tochter einer englischen Fünfkopf-Familie (Großmutter, Mutter, Vater, Tochter und Sohn) erleidet einen in seinem Verlauf reichlich unrealistisch anmutenden Verkehrsunfall und versinkt im Dauer-Koma. Der Sohn, der dieses Geschehen miterleben muss und indirekt sogar mit verursacht, wird von Schuldkomplexen bedrückt und verstrickt sich anscheinend ausweglos in einer Verdrängungsneurose. Die Eltern, die sich in einer Ehekrise befinden, differieren angesichts dieser Ereignisse und den unterschiedlichen Haltungen, die sie zu der Frage Leben oder Sterbenlassen der Tochter einnehmen, noch weiter auseinander, während der Vater zusätzlich chancenlos um die Existenz seines Lebenswerkes, seiner Firma, ringt.
Die Parallelhandlung der Lebens-, Leidens- und Karrieregeschichte deiner amerikanischen Neurologin, die selbst von kindlichen Schuldkomplexen geprägt und angestachelt ist, ein unetabliertes, pionierhaftes Behandlungsinstitut für Komapatienten aufbaut und dabei in vorgeblich unerforschte Tiefen der menschlichen Existenz und in substanzielle Ur-Bewußtseinsebenen vorstößt, alterniert nicht ungeschickt mit der Geschichte der englischen Familie.
Natürlich finden gegen alle wirtschaftlichen, persönlichen, politischen und organisatorischen Widerstände beide Stränge zueinander. Es beginnt eine absurd anmutende Doppelbehandlung beider Kinder, die über Sensorenleitungen miteinander kommunizieren sollen, wobei Mawson nicht müde wird, das Aussehen der zahllosen Monitore, Lämpchen und Drähte zu beschreiben.
Die Situation wird vollends abenteuerlich, als das Institut von fanatischen Bürgerrechtlern und selbst ernannten Lebensschützern zwangsweise geschlossen lassen wird (wobei zum Überfluss auch noch das Pentagon die Hand im Spiel hat). Zum Ende mutiert die Geschichte zu einer aberwitzigen Fantasy-Story und einem Jugend-Abenteuerroman mit Wanderungen durch die mentale Wildnis innerhalb des Unbewussten eines Zwölfjährigen, die Mawson sich als Traumlandschaften aus undurchdringlichen Urwäldern, spiegelnden Seen, hohen Bergen und tiefen, geheimnisvollen Höhlen vorstellt, bevölkert von Naturkindern mit mystischen Talismanen. In einer solchen Höhle findet der Sohn seine Schwester auf einem Strohlager (!) und will sie zurückführen, was dadurch verkompliziert wird, dass er inzwischen zwangsweise von unkundiger Hand entkabelt wurde und darum selbst nicht mehr den Weg findet. Aber die Ärztin und die Eltern geben nicht auf...
Robert Mawson hätte es bei seinem thematischen Vorwurf wahrlich nicht nötig gehabt, so tief in Phantastereien abzugleiten. Das geht nicht in die Tiefe, sondern ins Peinliche. Seine, einem primitivem Gut-Böse-Denken verhafteten, Darstellung voller »wunderbarer Menschen« einerseits und bösartiger Charaktere andererseits schadet überdies seiner Glaubwürdigkeit.
Vielleicht ist »Das Lazaruskind« ein Buch für jene, die einen spannenden Abenteuerroman lesen wollen. Gerade aber den in irgendeiner Form Betroffenen (z.B. den Angehörigen von Koma-Patienten), die sich von diesem Werk wie auch immer geartete, relevante Aussagen oder ein wenig Authentizität erwarten, kann die Lektüre nicht empfohlen werden.
Robert Mawson: »Das Lazaruskind« (Roman), Taschenbuchausgabe: Goldmann Verlag, München 2000,
ISBN 3-442-44768-3, 415 Seiten, 16,90 DM.