Melancholisches Querdenken und Querdichten
von Martin Krauss
Der 1947 geborene Bruno Runzheimer aus Essen, langjähriger Herausgeber der Literaturzeitschrift "Impressum", legt mit dem Band "Es ist Melancholie, so will mir scheinen... – Gedankenlyrik" 68 Gedichte vor, die sich dem spontanen Zugang weitgehend entziehen. Unvertraut erscheinen die Inhalte wie die Form innerhalb der Gattung Lyrik, denn möglichst konsequente Verdichtung ist die Eigenheit der Zeilen Runzheimers nicht und soll es auch nicht sein.
Die meist einseitigen Texte sind reimlos mit vorwiegend jambischem Metrum, und orientieren sich so an klassischer Versdichtung, jedoch mit modernen, aktuellen – oder auch zeitlosen – Inhalten. Die also stark rhythmisierte Sprache skandiert Gedankengänge über Zwischenmenschliches, über die meist skeptisch betrachteten Sonderbarkeiten unserer Zeit, über die Hohlheit der Welt, seltener über den Eindruck von Landschaft oder Begegnung. Aus diesem poetologischen Ansatz resultiert nahezu notwendig die Charakteristik von Runzheimers Gedichten.
Diese sind, wie angedeutet, nicht eben maximal dicht. Dadurch wirkt manche Sequenz gekünstelt, konstruiert, hölzern, kompliziert formuliert. (In "Nuancen": "öffnend per ganz Ohr sein" – gemeint ist "gut hinhören"). Dem von komprimierender Lyrik geprägten Leser mag daher der eine oder andere Text geradezu als unfertig und unnatürlich erscheinen.
Runzheimer unterwirft dem Versmaß zudem, wo nötig, nicht nur die Regeln der Konjugation und Deklination, sondern (und da wird seine Vorgehensweise in der Tat bedenklich) auch hin und wieder die Exaktheit der Begriffe. (Z.B. in "Zeichen": "Stütze für Gedächtnisschwäche" – gemeint wäre wohl "gegen", oder vielleicht auch "Gedächtnisschwache".)
Die Gedanken der "Gedankenlyrik" umfassen vielfach Ansichten, die dann als (wenn auch wenig pointierte) Meinung daher kommen, ohne appellativen oder reformerischen Charakter (das ist Melancholie, so will mir scheinen...) und private Empfindungen, wie über Liebe, Persönlichkeitsentwicklung, das Altern. Hier entfalten Runzheimers Texte ihre Stärken und gelegentlich sogar eben doch so etwas wie atmosphärische Dichte. Seine Beobachtungen und Folgerungen sind fast durchweg evident und intelligent, tief menschlich und in der Grundstimmung – melancholisch, wie schon der Buchtitel verrät. Melancholie nicht im Sinne von Larmoyanz, sondern illusionsloser Nüchternheit, bitterer Erkenntnis und subtiler Trauer, die aus seinen Worten sprechen.
Bruno Runzheimer ist sich dabei offenbar wohl bewußt, daß er im Grundsatz "Nichts Neues" (so ein Gedichttitel) aufzutischen weiß. Vielmehr ist der Wiedererkennungseffekt in seinen Gedichte (die zur Erfassung der geschickt gefeilten Rhythmik am besten laut zu lesenden sind), und damit die Bewußtmachung so mancher unterschwelligen Vorstellung das Gewinnreiche an dieser Lyrik. Sie ist jedoch nicht hinreichend pointiert und ästhetisierend, um damit bereits hohe Einprägsamkeit zu erreichen. Der Leser muß die metrisch präsentierten Gedanken zuerst selbst aufnehmen, fortspinnen, den Takt verinnerlichen, ihn übernehmen oder modifizieren, kurz: sich Mühe geben, um seinen dauerhaften persönlichen Zugang zu finden.
Man mag Runzheimers Gedichtband freilich auch als Dokument einer Befindlichkeit (einer Generation?, einer Altersstufe?) auffassen und psychologischen und/oder soziologischen Deutungen unterziehen. Ein ebenfalls viel versprechender Ansatz zur Lektüre eines eigenständigen Querdenkers und Querdichters, der sich um Popularität und Merkantilität seiner Verse wohl die wenigsten Gedanken macht.
Bruno Runzheimer: "Es ist Melancholie, so will mir scheinen..." (Gedankenlyrik), edition winddruck, Siegen 2001, ISBN 3-922256-29-5, 74 Seiten, XX,XX DM.