Herrlich verrückt- bedrückend krank
von Martin Krauss
Die geistig behinderte Ulrike, zwanzig Jahre alt, hübsch und impulsiv, lebt in einem Heim mit angegliederten Werkstätten. "Herr Eckart", wie sie ihn selbst dann noch nennt, als beide längst vertraut miteinander sind, genauso alt wie sie, gebildet, intellektuell, zunächst sehr selbstsicher, wird ihr Betreuer. Aus dieser Ausgangssituation entspinnt sich die Geschichte einer Beziehung, die in mehrfacher Hinsicht den Rahmen des Gewöhnlichen, teils gar den des (im Sinne etablierter Moral) "Erlaubten" überschreitet. — Aus dieser Geschichte formte Volker Jehle seinen Debütroman "Ulrike", der jetzt bei Klöpfer & Meyer in Tübingen erschienen ist.
Ulrike sagt immerfort "sie", wenn sie "ich" meint. Sie anerkennt keine Regeln, keine Grenzen. Ihre Forderungen an ihre Umgebung sind maßlos, dabei jedoch nicht selbstisch, denn maßlos ist auch ihre Hingabe an alles, was sie tut, an jede zwischenmenschliche Beziehung. Ulrike ist schwierig, zuweilen tobsüchtig und gewalttätig. Aber sie ist auch überaus sensibel, phantasievoll, grotesk komisch, in ihrem verbohrten Denken verblüffend konsequent. Sie kann sehr charmant sein, zärtlich und gefühlvoll. Ihr neuer Betreuer Eckart ist ihr zunächst gleichgültig, dann gewöhnt sie sich an ihn, dann verliebt sie sich in ihn, dann versucht sie ihn mit aller Macht für sich zu gewinnen, getrieben von der Sucht nach Akzeptanz und menschlicher Wärme und gepeinigt von Eifersucht. Eifersucht gegen Mitpatienten und gegen eine Betreuerin.
Eckart ist in seinen Ansichten und Methoden weit entfernt von der bekannten "Verwahrhaltung", die freilich in jeder Situation als vielleicht leichtere Alternative präsent ist. Er ist fasziniert von diesem explosiven Bündel Leben; zunächst staunt er nur über Ulrike, dann kämpft er für und um sie, dann mag er sie wirklich. Er hat sich bestens unter Kontrolle, beherrscht die Situation gedanklich und emotional, doch schließlich wird er bestrickt, droht gelegentlich, den Kopf zu verlieren, scheint Ulrike zu verfallen. Retten kann er sich, Ulrike und die Anstalt letztendlich nur durch einen harten Schnitt: die Trennung.
Ein Roman für Psychotherapeuten und psychologisch interessierte Laien? Ein semidokumentarisches Lehrstück über Chancen und Grenzen einer Therapie, die auf menschliche Nähe baut? Volker Jehles Roman ist all dieses, aber noch erheblich mehr, weswegen er auch für anderweitig Interessierte lesenswert ist.
Die Schilderungen Jehles finden zwar auf dieser thematischen Ebene statt, gehen jedoch tiefer und sind weit vielschichtiger. Die Fragwürdigkeit aller "Normalität" und der Reiz des Anderen, die Würde des Menschen, seine Einzigartigkeit, das Ringen zwischen Wunsch und Pflicht, Gefühl und Verantwortung sind Themen von allgemeiner Gültigkeit.
Das "Verrückte" erscheint in der Personifikation durch Ulrike oft als das Natürlichste der Welt, zum Beispiel wenn sie auf einem Spaziergang einfach die Beine spreizt um Wasser zu lassen, ohne die Unterhose herunter zu ziehen, und anschließend erklärt: "Das war nicht Ulrike! Die macht so etwas nicht!" - Oder wenn sie in einem feinen Restaurant zu lange auf das Essen warten muß und schließlich einfach bei einem Herrn am Nachbartisch das Schnitzel vom Teller nimmt und abbeißt, was für den feinen Herrn ein phantastischeres Ereignis ist als für Ulrike, die brav das Schnitzel zurückgibt und sich wieder setzt.
Aber Jehle verklärt keineswegs die Krankheit zu einem Possenspiel. Die Angst, die Selbstzerfleischung psychisch Kranker, ihre erschütternden Anfälle und die Ausweglosigkeit ihrer immer auf Beistand angewiesenen Situation spart der Autor nicht aus.
Handlung und Dialog tragen die Geschichte, wobei der Dialog auch Gedanken und die nonverbale Kommunikation meisterhaft wiedergibt und zugleich den jeweiligen Tonfall bzw. die Betonung hervorhebt. "Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, bemerkte, daß er das bemerkte und schloß rasch ab..." Oder später, wenn sich durch einen Dialog ein Faden veränderlichen Lächelns spinnt: "Vorsichtiges Lächeln." ... "Das Lächeln festigte sich zögernd." ... "Das Lächeln hatte sich installiert." Durch solche genauen, detaillierten Beobachtungen und ihre Übertragung in konsequent sachliche, dabei pointierte Sprache wird eine Situation schon durch reinen Dialog immens eindringlich. Es entsteht ein progressiver Erzählstrang und ein deutliches Bild von dem, was Jehle wichtig ist: von den Menschen.
Die Erzählung kommt so nahezu völlig ohne Beschreibungen aus. Kaum einmal wird eine Landschaft geschildert, ein Raum beschrieben oder ein Gesicht skizziert. Dennoch stehen dem Leser deutliche Bilder vor Augen.
Ein Debütroman also, der es in sich hat, der unterhaltsam und ergreifend ist und nachdenklich macht, und für den zu hoffen bleibt, daß er entsprechende Beachtung erfährt.
Volker Jehle: "Ulrike" (Roman), Klöpfer & Meyer, Tübingen 1996, ISBN 3-931402-06-1, 267 Seiten, 38,— DM.