Erfolg hat viele Väter
von Martin Krauss
Was ist ein "Vaterprojekt"? Diese Bezeichnung wählte der Freiberger Peter-Segler-Verlag für eine zweibändige Anthologie, deren erster gerade erschienen ist. "Vater, mein Vater!" beinhaltet Prosa deutscher, österreichischer und schweizer Autoren. Im Herbst soll eine Lyriksammlung zum gleichen Thema folgen.
Die Assoziationsmöglichkeiten zum Thema "Vater" sind zweifelsohne vielgestaltig. Doch der Herausgeber Peter Segler will mehr, nämlich "großes Augenmerk auf die stilistische Breite des Spektrums" legen und "unter dem Dach eines thematischen Rahmens nach Gemeinsamkeiten Ausschau halten", womit er auf die gesamte, deutschsprachige Autorenschaft verbindend zu wirkend hofft.
Ob letzteres gelingt, können bestenfalls die Autoren selbst nach einiger Zeit beurteilen. Das erste, das inhaltlich und stilistisch breite Spektrum, ist in dem vorliegenden Band ersichtlich.
23 Autoren und ein Autorenteam, darunter zehn Frauen, haben in kurzen Beiträgen das zu Papier gebracht, was ihnen am dringlichsten zum Thema "Vater" einfällt. Vieles davon ist äußerst dringlich, denn bedrückende Assoziationen, schlimme Erinnerungen und Ängste überwiegen bei weitem die positiven Aspekte.
Allerdings wurde (zum Glück) das Thema frei aufgefaßt, so daß nicht immer das Verhältnis zum eigenen Vater im Mittelpunkt steht. Dort stehen auch "Die Väter", Traum- und Wunschväter, Vater-Sohn oder Vater-Tochterbeziehungen von Dritten.
Dabei kommen zum Teil brisante Umstände zur offenen Aussprache. Gewalt und sexueller Mißbrauch in der Familie, das Verlassensein, auch die Sehnsucht nach der schützenden Vaterhand, die Angst vor der strafenden. Vielfältig sind die Szenerien: vom verwahrlosten, frühreifen Jugendlichen bis zum behüteten Kind.
Daß nicht nur weinerlich in ödipalen Erziehungsproblemen gestochert wird, dafür zeugen Geschichten wie "Das Zeichen" von Wolfgang Ahrens, in der eine Familie in unübersichtlich-grotesker Kriegssituation ums Überleben kämpft, wobei der tote Vater das Schicksal bestimmt, oder die Geschichte "Ich hoffe, daß sie noch lange blühen werden" von Gertrude Schulte. Hier pflegt eine junge Frau ihren alten, hilflos und kindisch gewordenen Vater und schwankt zwischen Abscheu und Liebe.
Inhaltliche Vielfalt ist somit gegeben, viele Prosastücke haben über das individuell-schicksalhafte hinaus Relevanz und Aussagekraft als Szeneschilderungen oder psychologisch dichte Studien.
Stilistisch ist die Vielfalt ebenfalls gewahrt, wenn auch einschränkend eingewandt werden muß, daß nicht alle Autoren die schwierige Form der Kurzprosa angemessen bedienen. Bei dieser muß, ähnlich wie in der Lyrik, jeder Satz stimmen und in wenigen Zeilen ein Ton gefunden und eine Aussage abgerundet, zumindest aber eine Richtung dazu eingeschlagen werden. Daran scheitert mancher, betritt ’ein weites Feld‘ und läßt den Leser dort ratlos zurück.
Die Kleinform perfektioniert hat der schwäbische Autor Walle Sayer, der konzentriert literatisierte Sprache und pointierte Aussage tatsächlich auf einer halben Druckseite zuwege bringt, weswegen von ihm gleich zwei Beiträge enthalten sind, die beide das Lesen lohnen. Doch auch eine Autorin wie Christiane Schwarze steht für gekonnte Verdichtung. Auf vier Seiten gelingt es ihr mit "Ja, Vater!" (eine Geschichte um ein träumendes, behindertes Mädchen, das ihre Wünsche vor dem Vater verbirgt) ein Wechselbad einander völlig widerstrebender Atmosphären zu erzeugen, welches das thematisierte Leid mitempfinden läßt.
Der erste Band des Anthologieprojekts ist also gelungen, sein Erfolg hat 24 Väter (und Mütter). Dem zweiten darf man mit Neugier entgegensehen.
"Vater, mein Vater!", Anthologie, Peter-Segler-Verlag, Freiberg 1996, ISBN 3-931445-65-8, 140 Seiten, 14,80 DM..