Das Schweigen gebrochen: Sind die meisten Väter schlecht?
Zweiter Band der Anthologie "Vater, mein Vater!" erschienen
von Martin Krauss
Die Themenstellung "Vater, mein Vater!" kann gewiß bereits als Ausruf in höchster, emotionaler Bewegtheit verstanden werden. Der aufgrund der Vielzahl der Beiträge zweigeteilten Anthologie erster Band (ersch. 6/1996), welcher Prosabeiträge beinhaltete zeitigte bereits ein nachdenklich machendes Ergebnis: negative Assoziationen, Angst, schlimme Erinnerungen und sogar Haß, überwogen deutlich die Dokumente der Zuneigung, des Verständnisses und der Liebe. Wird das in dem Band, der der lyrischen Form Vorrang gewährt, grundlegend anders sein, lautete die Frage?
Es ist nicht anders, höchstens schlimmer. Diese Antwort kann nun nach Erscheinen des zweiten Bandes im Freiberger Peter Segler Verlag gegeben werden. Das Gesamtbild ist noch erschreckender, die Beiträge tendenziell noch bedrückender als in der Prosa. Was bedeutet das? Sind alle, oder doch die meisten Väter schlecht?
Dieser Schluß drängt sich auf, wenn in den Gedichten, Prosaminiaturen und in Texten, die eigentlich keine literarische Form bedienen, sondern mehr oder minder verbale Aufschreie sind, viel die Rede von familiärer Gewalt, Entfremdung, Vernachlässigung oder gar Mißbrauch ist. Da schreibt Manfred Hausin, Jahrgang 1951, unter dem Titel "Mahlzeit": "Die Mutter / Wirft die Gabel / Der Vater / Holt das Messer / Die Kinder / Löffeln die Suppe / AUS". Das Familienleben basiert auf Gewalt. Johanna Machtl, Jahrgang 1961, variiert unter der Überschrift "Dein Wille geschehe" den Satz "Ich habe alles für dich getan / du warst der VATER, ich war das kind" durch Verlegung einer Hervorhebung auf jedes einzelne Wort - Stereotypie und Unverständnis in einer Beziehung. Aglaya Veterabyi, Jahrgang 62, läßt den Vater alle 20 Jahre eine Postkarte schreiben, bis er zum Sterben wiederkommt. Der Vater ist ein Fremder. Corinna Thomas, Jahrgang 63: "Warum / [...] / mißbraucht / für einen kurzen / Moment / deiner Lust / was du einst / gesät / Warum / Vater?".
Solche und vergleichbare Beispiele finden sich vielfach — aber im Grunde sind sie untereinander unvergleichbar. Auch an der Form, die nur in wenigen Fällen literarische Ansprüche erfüllt, wird deutlich, daß es sich hier um unverfälschte, sehr persönliche Verarbeitungen handelt. Manche wiederum sind so komprimiert und dadurch ausdrucksstark, daß sie eine neue, ganz eigene literarische Tiefe erreichen. Rainer Strobelt, geb. 1947: "chor der kinder: du / vater / hattest das zeug".
Dieses Phänomen ist vielleicht auch eine Erklärung des deutlichen Übergewichts des Schreckens. Er bildet das basierende Schreibmotiv. Nicht ästhetischer Gestaltungswille, kaum schriftstellerische Ambitionen, sondern Erlebnisverarbeitung bricht sich hier Bahn. Mehr noch als Erzählungen sind komprimierte Worte und Sätze geeignet, tiefen Empfindungen Ausdruck zu verleihen.
Also sind nicht alle Väter schlecht, sondern belastete Vater-Kind-Verhältnisse provozieren eher die Verarbeitung im Gedicht, während ein harmonisches, unproblematisches Verhältnis kein Stoff für Lyrik darstellt, oder zumindest keinen Formulierungsdruck erzeugt? Die Ausnahme, auch im Buch zu finden, bestätigt diese Regel.
Denn auch von positiven Assoziationen ist die Rede. Einige Autoren beobachten sich selbst in ihrer eigenen Vaterrolle und vergleichen damit ihre Erziehung. Rudolf Kraus (geb. 1961): "milena: [...] mach nicht die alten fehler / [...] / doch du bist mehr als alles wert". Siegfried Schüller , geb. 1967, kämpft um Verstehen: "wie soll ich dich beschreiben ohne zu verraten?". Er fragt angesichts der jüngeren Geschichte: "Ihr Väter, Opfer wart ihr - warst du auch Täter?" und gesteht seine "unbeholfene Liebe".
Dennoch bleibt nach Lektüre der 62 Beiträge, die zum Teil mit persönlichen Fotografien illustriert sind, ein bedrückendes Gefühl zurück. Selbst wenn das im Buch dokumentierte Vaterbild nicht empirisch zutreffend ist, so sind diese Vaterbilder doch vorhanden und zeigen eine Grauzone unserer Familienwelt, die wohl meistens verdrängt und verschwiegen, nur selten so aufrichtig dargestellt wird wie in der Anthologie "Vater, mein Vater!". Deswegen ist das Buch auch weniger als literarische Anthologie, sondern mehr als soziologische und psychologische Quellensammlung wertvoll. Vätern und solchen, die es werden wollen (oder müssen), kann es den Horizont des Blickes erweitern, jedem, der sich mit pädagogischen oder anderen Fragen im Kontext der Familie beschäftigt, kann es ein breites Spektrum an Erfahrung bieten.
"Vater, mein Vater! - Poetische Begegnungen", Zweiter Band der Anthologie im Peter Segler Verlag, Freiberg/Sachsen 1996, ISBN 3-931445-66-6, 107 Seiten, 20,- DM.