Die Ohm ist zu lang
von Martin Krauss
Die Ohm ist ein hessisches Flüßchen, das im Vogelsberg entspringt und in die Lahn mündet. Unter dem Titel "Die Ohm" veröffentlichte der in Frankfurt am Main lebende Autor Paulus Böhmer einen 18 Seiten langen Text beim Ostheimer Peter-Engstler Verlag (auf wunderbarem Papier gedruckt). Der Fluß ist Böhmer dabei "roter Faden" und Hauptmetapher für einen langen Sprachfluß, der sich nicht eindeutig zwischen Lyrik und Prosa zu entscheiden gewillt ist. Zentrierte, frei gebrochene Zeilen betonen das lyrische Element, um Metrik wird sich nur phasenweise und ohne Konsequenz bemüht.
Paulus Böhmers Text stellt eine verbale Meditation über das Mantra Ohm dar. Der Fluß wird dabei reichlich aktiv. Die Ohm lutscht, leckt, quasselt, faselt, kreischt, seufzt, onaniert, überfällt, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Ohm entwickelt metaphorische Bedeutung für den Zeitfluß in vielfältiger Beziehung (geologisch, politisch, kulturell, individuell ...). Böhmer sinniert anhand der Ohm über Tod und Leben, Fortpflanzung und Verfall, sucht und findet das Surrogat der Ursuppe in der Ohm ebenso wie das vergossene und zu vergießende Blut der Endzeit. Bewegungen sind dabei stets vorherbestimmt, zwangsläufig in engen Windungen vollzogen, wie es dem Fluß in der Tat entspricht. Das Gewässer ist geballter Ausdruck von Auswegslosigkeit, Ignoranz und Resignation.
Ewiges Wachsen, Kopulieren, Vergehen, Fließen, überall Säfte, in denen sich die Wasser der Ohm finden, dies sind Vermittlungsansätze von Böhmers Gedanken. Eine Unzahl von Bildern, welche Böhmer hemmungslos aufzählt. Eine Litanei meist von Obszönitäten, die nach Originalität heischen. Böhmers Neigung zum Gigantischen ("Blase und Darm entleeren sich in riesigen Windeln") berührt unangenehm, wirkt aufgesetzt, schadet der Glaubwürdigkeit und entspricht dem Flüßchen eben nicht. Grundtenor: alles ist schrecklich, schmutzig und böse, alles ist schon einmal da gewesen: in der Urzeit oder bei Oma oder im Kino. Böhmers atemberaubende Verbindungen sind eine randomisierte Allerweltsphänomenologie, wo vom Urknall über Hitler zu den modernen Zeiten alles vermischt wird.
Böhmer findet unter dem Sediment, das er von seiner "Ohm" mittragen läßt, eindrucksvolle Bilder und Formulierungen. "Und die Knochen der Toten quengeln unter den Hufen." / "Herr, es will Abend werden. Ein leerer Eimer an der Friedhofstür." / "Daß aus unzähligen, stroboskopartigen Momenten ein Kontinuum entsteht, ist nur eine Eigenschaft des Gehirns." Leider nicht eine Eigenschaft Böhmers Gehirns. Die Kaskade schwach sortierter Einfälle läßt in ihrem Tempo kaum eine Verinnerlichung zu. Bloße Behauptungen stehen im Raum: "... die Ohm erzeugt die Mordlust der Stämme". Warum eigentlich?
Böhmer nimmt sich große Freiheit im Umgang mit Relationen und Inhalten. Wenn von einer "Burg aus uralter Zeit" die Rede ist, wo zuvor mehrfach von Ursuppe, Tektonik und Gletschern gesprochen wurde, stimmt etwas nicht. Wenn über Seiten hin die Ohm als Surrogat aller erdenklichen Phänomene angeführt wird, so widerspricht die Behauptung "Die Ohm teilt die Welt in Lebendiges und Totes, unbeirrbar..." allem anderen.
Aussagen wie: daß "das Leben nicht zu erklären sei", "Terror der Rettung", letztlich die Kernsätze "Mythen sind Müll der Doofen. Es gibt keine Bedeutung. Es gibt die Ohm." erwecken den Eindruck, Böhmer sei sich der Leere seiner Ausführungen bewußt. Dennoch können seine pseudo-avantgardistische Bezeichnungen wie "Hautlappen-Käte-Kruse Lesbenlaich" oder "Milchsäurenrambazamba" nur ein "Aha" ernten. Eine Passage wie "Die Ohm schluckt Priester wie Müll. Schluckt Mägde, die rothaarig ausbluten über Ebenen, wie Habichtsflug still. Schluckt Konfirmanden, die fett & knackig hocken, auf Paarung. Füchse, Betrüger und Hitleristen singen." verursacht lediglich Kopfschmerzen. Inflationäres Auftreten von Gebärmüttern, Vaginen, von Schleim, Blut und Kot langweilt bald.
"Als sei das Leben eine Geschichte", schreibt Böhmer am Ende der "Ohm", und legitimiert damit gleichsam seinen Text. In der Tat könnte das Unzusammenhängende damit Berechtigung in Anspruch nehmen, wären dabei weniger Worte gesammelt worden, sondern bewußte Auswahl und Anordnung der teils eindrucksvollen Bilder und dabei eine Kürzung des Gesamtumfangs auf circa zehn Prozent erfolgt.
Paulus Böhmer: "Die Ohm", Verlag Peter Engstler, Ostheim/Rhön 1997, 18 Seiten, ISBN 3-929375-14-1.