Ein Buch wie ein Baum
Thaddäus Troll-Preis für "Zeitverwehung" von Walle Sayer
von Martin Krauss
In der schwäbischen Provinz, genauer in Horb, Bierlingen und Dettingen, alles dicht beieinander und unweit Tübingen, wurzelt der 1960 geborene Dichter Walle Sayer. Seit 1982 veröffentlicht er: zunächst einen Gedichtband im Selbstverlag, dann mehrere, schmale Bände mit Gedichten und Prosaskizzen, Beiträge in Zeitschriften und nun ein schön gebundenes Buch, den Gedichtband "Zeitverwehung".
Manchem ist er schon vor seinem großen Wurf aufgefallen. Er war Stipendiat des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg, erhielt 1989 den "Vera Piller Poesiepreis" in Zürich und Anfang 1994 den 2. Meraner Lyrik-Förderpreis. Für "Zeitverwehung" nun also eine der bedeutendsten, deutschen Literaturauszeichnungen.
"Zeitverwehung" ist ein Buch wie ein Baum. Verwurzelt in Heimatboden und -sprache, im unlösbarer Verflechtung zu Land und Leuten treibt er drei Kapitel-Äste hervor, an denen 86 Gedichtblätter sprießen.
Dieser Vergleich, weil die Grundpositionen des Autors Verwurzelung und Bodenständigkeit, aber auch Genügsamkeit in karger Erde sind. Nicht aus sattem Großstadt-Ereignishumus zieht er Nahrung für poetische Triebe, sondern aus dem vielleicht sterbenden Land.
An der Ausformung der Blätter sind die Schwankungen in Umwelt und Gesellschaft ablesbar. Seine Kapillaren reagieren sensibel auf das Grundwasser, den Niederschlag der Geschichte: eine Kerbe in einem alten Küchentisch, Steine auf einem Bahndamm, oder auf Spritzer, die im "Bierdeckelradius" jeden treffen können. Manchmal liegt der Stoff auch in der Luft, etwa beim Blick durch eine "Schießscharte": »[...] schraffierte Landschaft im Tal, / wer heraufschaut von dort unten, / kommt sich noch immer klein vor, / keine Harnische, / die Sonne glänzt nur auf dem Blech / der Besucherautos im Vorhof [...]«
Sayers Stärke ist das treffende Wort, der pointierte Satz. Nahezu aphoristisch verschmelzen Lyrik und Prosa zu einer übergeordneten Form.
Er erforscht die Welt genau. Sein messerscharfer Blick und entsprechendes Sprachvermögen erlauben ihm, zu kritisieren, ohne belehrend zu werden, bloßzustellen nur durch Beschreibung. Zierrat, z.B. Reime, findet sich nicht. Ein Rhythmus ergibt sich in der komprimierten Sprachform wie von selbst. Man ahnt, daß dies der Urrhythmus von Sprache überhaupt sein könnte.
Sayer schreibt lakonisch, meist etwas melancholisch, die große Geste, der Aufschrei sind seine Sache nicht. Wer die in aller Normalität doch immer wieder verblüffenden Assozioationen wirken läßt, wird von dem Geist, der Erkenntnistiefe ergriffen, die in den Versen lebt.
Prof. Dr. Hermann Bausinger, eremittierter Direktor des Ludwig-Uhland-Institutes für empirische Kulturwissenschaft in Tübingen, formulierte dies in seiner Laudatio zur Thaddäus-Troll-Preis-Verleihung am 21.9.94. An-hand eines Gedichtes konstatierte er eine geistige Verbindungslinie zwischen Sayer und Georg Büchner. Das ist gar nicht weit hergeholt. Auch im "Lenz" sind es Wolkenzüge, Details der Landschaft, und immer wieder die Men-schen bei ihren täglichen Ver-richtungen, die die Menschenliebe oft verzweifeln lassen, ohne sie indessen zu vernichten. So ist auch "Zeitverwehung" ein trauriges, aber kein bedrückendes, sympathisches Buch.
Walle Sayer: "Zeitverwehung". (Gedichte) Verlag Wilfried Eppe, Bergatreute 1994, ISBN 3-89089-234-5, 104 Seiten, 19,80 Mark.